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AutorenbildKatharina Pink

Die Geburt aus der Sicht der Evolution — Teil 1 „Obstetric Dilemma“

Aktualisiert: 23. Aug. 2023

In Österreich liegt die je nach Region und Krankenhaus im Durchschnitt bei 30%. Das bedeutet, dass jedes siebte Kind in Österreich durch Kaiserschnitt (Bauchgeburt) das Licht der Welt erblickt. Dieser kann, wenn medizinisch indiezier, Leben retten, sollte aber laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) zwischen 10-15% liegen. Das heißt in Österreich werden im Durchschnitt doppelt so viele Kaiserschnitte durchgeführt als von der WHO angeraten. Medien, Influcener*innen und leider auch die Wissenschaft tragen dazu bei, dass Geburt oft als gefährlich und ohne medizinische Hilfe sogar nicht möglich wahrgenommen wird.


Für mich als evolutionäre Anthropologin drängt sich die Frage auf „Wenn der menschliche Geburtsprozess eine so hohe Ausfallquote von 30% hat, warum hat sich dieser Prozess im Lauf der Evolution nicht angepasst? Schließlich muss ja die Fortpflanzung und das Überleben der Spezies Mensch sichergestellt werden.“


In den letzten Jahrzehnten haben sich viele meiner Kolleg*innen mit möglichen Erklärungsmodellen für den „riskanten“ Geburtsprozess beim Menschen beschäftigt. Einige von ihnen weisen auf eine scheinbare evolutionäre Diskrepanz zwischen dem großen kindlichen Schädel (bedingt durch ein größer werdendes Gehirn) und dem weiblichen Becken, dass an den aufrechten Gang angepasst ist, hin (e.g. Washburn, 1960; Rosenberg, 1992; Rosenberg & Trevathan, 1996, 2021; Fischer & Mitteroecker, 2015; Grunstra et al., 2019; Haeusler et al, 2021). Durch den aufrechten Gang ist das menschliche Becken breiter und kürzer geworden, um so Stabilität während des Gehens zu gewährleisten. Zudem ist es anders ausgerichtet als bei anderen Primaten, damit die vertikalen Belastungen des aufrechten Gangs besser bewältigt werden können. Dies bedeutet, dass die größten Diameter der drei Beckenebenen in unterschiedliche Richtungen orientiert sind. Der größte Diameter des Beckeneingangs ist mediolateral orientiert und der größte Diameter des Beckenausgangs ist anterior-postior ausgerichtet. Zwischen dem Beckeneingang und dem Beckenausgang befindet sich die schmalste Stelle, auch als Beckenmitte bekannt (siehe Grafik 1). Während der Geburt muss das Baby daher seine Kopf in verschiedene Richtungen drehen, um den jeweils schmalsten Diameter in den drei Beckenebenen passieren zu können. Der blaue Strich (siehe Grafik 1) zeigt die Orientierung des kindlichen Kopfes in den jeweiligen Beckenebenen. Im Beckeneingang ist der kindliche Kopf quer, in der Beckenmitte diagonal und im Beckenausgang gerade (entweder die kindliche Nase beim mütterlichen Steißbein oder die kindliche Nase beim mütterlichen Schambein) orientiert. Der kindliche Kopf vollzieht also eine Drehung von 90° während des Geburtsprozesses.


Grafik 1: Verschiedene Beckenebenen des mütterlichen Beckens und die dazu jeweilige Orientierung des kindlichen Kopfes.

Die Adaption des Beckens an die Fähigkeit zum aufrechten Gang und einer erfolgreichen Geburt wird in der Fachwelt „obstetric Dilemma (OD)“ genannt und ist für viele Anthropolog*innen einer der Hauptfaktoren, warum die Geburt beim Menschen eine solche Herausforderung darstellt.


Die bereits oben beschriebene Diskrepanz zwischen dem kindlichen Schädel und dem mütterlichen Becken kann auch zu einem sogenannten Schädel-Becken-Missverhältnis (CPD) führen. Ein enges Verhältnis zwischen dem kindlichen Schädel und den mütterliche Becken tritt aber nicht nur beim Menschen auf, wie Grafik 2 zeigt (Rosenberg & Trevathan (2002) nach Schultz (1969)). Die Größe des kindlichen Kopfes wird durch den schwarzen Kreis und die Größe des mütterlichen Geburtskanals (Beckenöffnung) durch den weißer Kreis in der Grafik dargestellt. Auch andere nicht-menschliche Primaten haben ein ähnliches CPD wie wir Menschen. Ein solches kan einer obstruierten Geburt führen. Dies bedeutet, dass der Fortschritt der Geburt behindert oder verhindert wird. Liegt tatsächlich ein CPD vor, ist ein Kaiserschnitt die einzige Möglichkeit um Mutter und Kind sicher durch den Geburtsprozess zu bringen.


Grafik 2: Verhältnis des kindlichen Kopfes zum mütterlichen Becken bei den verschiedenen Primatenarten. Rosenberg & Trevathan (2002) nach Schultz (1969).

Laut WHO sind rund 2,8% der mütterlichen Todesfälle weltweit auf CPD zurückzuführen. Daten aus den USA zeigen jedoch, dass rund 47,1% der sekundären Kaiserschnitte aufgrund von CPD oder Geburtsstillstand durchgeführt wurden. Bedeuten die Zahlen der USA im Umkehrschluss, dass 47,1% der Frauen in der USA eine Geburt nicht überleben würden, wenn nicht der lebensrettende Kaiserschnitt zur Verfügung stehen würde? Wohl kaum! Sieht man sich Daten aus Gebieten (Sub-Sahara Afrika und dem südlichen Asien) an, in denen die Durchführung eines Kaiserschnitts oft nicht möglich ist, so liegt die mütterliche Sterblichkeitsrate aufgrund von CPD oder Geburtsstillstand zwischen 2,1 und 2,7% (Say et al., 2014). Warum ist dann die Indikation für einen sekundären Kaiserschnitt bei rund 47,1% der Frauen in den USA ein CPD oder Geburtsstillstand? Dies liegt möglicherweise daran, dass CPD meist dann diagnostiziert wird, wenn ein Geburtsstillstand in der aktiven Phase der Geburt vorliegt oder die Öffnung des Muttermundes zu langsam voranschreitet. Hier spielt das sogenannte Partogramm von Emanuel A. Friedman eine wichtige Rolle, da viele klinische Richtlinien dieses Partogramm als Grund für das Zeitmanagement einer Geburt verwenden. Das Partogramm in aller Kürze, da es zu diesem Thema einen separaten Blogpost geben wird: Laut der 1955 publizierten Studie, der eine Stichprobe von 500 Frauen zugrunde lag, soll sich der Muttermund im Durchschnitt 1cm pro Stunde öffnen. Im klinischen Umfeld kommt Friedmans Partogramm nach wie vor zur Anwendung und zwar trotz Studien (e.g. Zhang et al., 2010; Ragusa et al., 2016), die belegen, dass die Öffnung des Muttermundes bis 6 cm im Durchschnitt weitaus länger als 6 Stunden dauert beziehungsweise nicht kontinuierlich von statten geht.


Welche Auswirkungen haben nun Arbeiten wie die von Emanuel A. Friedman oder uns Anthropolog*innen auf die einzelne Gebärende?


Im Falle des “obstetric Dilemma (OD)“ regt sich Kritik innerhalb der Disziplin. Einige Kolleg*innen (Walrath, 2003; Dunsworth et al., 2012; Betti et al, 2013; Betti, 2021; Warrener, 2023) argumentieren, dass Geburt ein multifaktoreller Prozess ist und das weibliche Becken auch einer multifaktorellen evolutionären Anpassung unterliegt (Anpassung an den aufrechten Gang, genetischer Drift, Phylogenese, Epigentik, Entwicklungszwänge etc.). In einem Interview der New York Times sprach Dr. Warrener kritisch über die Annahme, dass jede menschliche anatomische Struktur für eine bestimmte Aufgabe, im Falle des weiblichen Beckens für die Geburt, durch die natürliche Selektion fine-getuned sei, da Anpassungen auch oft Zufallstreffer sind. Möglicherweise ist die Form des menschlichen Beckens einfach ein evolutionäres Nebenprodukt. Was bedeutet das? Einige Gene, die für die Bildung des Beckens verantwortlich sind, sind auch für die Bildung anderer Teile unseres Skeletts verantwortlich (Agusto et al., 2022). Es kann daher sein, wenn sich eine dieser anderen Skelettteile aufgrund einer evolutionären Anpassung verändert, dass sich auch die Beckenform in Sinne eines evolutionären Nebenproduktes verändert und nicht wie durch die Hypothese “obstetric Dilemma (OD)“ angenommen, durch den aufrechten Gang sowie die Geburt. Viele der Kolleg*innen, die die Hypothese „obstetric Dilemma“ kritisieren, sehen die Gefahr, dass Frauen vermittelt wird, ihr Körper entspräche nicht der Norm oder eine Geburt sei nicht ohne medizinische Hilfe .


Wie Dr. Rachel Reed immer wieder zu sagen pflegt: „Der weiblich Körper ist keine Maschine, die nach bestimmten gemittelten Werten funktioniert“. Jeder Frauenkörper ist einzigartig in seiner Physiologie und daher auch während der Geburt. Diese Botschaft sollten wir als Forscher*innen an Frauen vermitteln und so ihr Urvertrauen in die Fähigkeit des Gebärens stärken! Denn Sprache schafft Wirklichkeit!

















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